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«Bei einem Stollenbau ist man nie vor Überraschungen sicher.»

Innerhalb von nur sechs Monaten entwickelte ein Team von Fachleuten das Projekt zum Sondierstollen unter dem Brienzer Rutsch. Nach zahlreichen Bohrungen, Messungen und Versuchen soll er in den kommenden eineinhalb Jahren zeigen, ob ein längerer Entwässerungsstollen den Brienzer Rutsch verlangsamen oder gar stoppen könnte. Verantwortlich für die geologischen Studien ist Daniel Figi.

Querprofil des Sondierstollens unter dem Brienzer Rutsch: Vom Stollen aus werden Bohrungen nach oben in den festen Fels und eventuell bis in die Rutschmasse getrieben. Durch sie kann Wasser in den Stollen abfliessen. Die Fachleute hoffen, so den Wasserdruck im Fels zu reduzieren, um die Rutschung zu verlangsamen oder sogar zu stoppen. Bild: BTG | GFS Albula/Alvra | gartmann.biz

Das folgende Interview wurde im Informationsbulletin zum Brienzer Rutsch vom 15. Februar 2021 veröffentlicht.


Am 7. Februar hat die Bevölkerung den Kredit für den Sondierstollen gutgeheissen. Wann beginnt der Bau?

Wenn alles gut läuft, können wir am 31. Mai mit den Bauarbeiten beginnen. Zuerst wird die Erschliessungsstrasse zum Stollenportal ausgebaut und dann der Installationsplatz und der Voreinschnitt erstellt. Der eigentliche Stollenvortrieb startet Ende August.  


Wie kam eigentlich die Idee auf, mit einem Stollen den Brienzer Rutsch zu sanieren?

Wir haben uns weltweit umgeschaut und gesehen, dass es in der Schweiz und im Ausland mehrere Rutschungen gibt, die mit einem Drainagestollen saniert werden konnten. Die Idee ist also nicht neu. Mit dem geplanten Sondierstollen wird nun geprüft, ob eine Entwässerung durch einen Stollen auch beim Brienzer Rutsch funktionieren kann.  


Kann man denn den Brienzer Rutsch mit anderen Rutschen vergleichen?

Jeder Rutsch ist für sich einzigartig. Bezüglich seiner Dimensionen kann man den Brienzer Rutsch in der Schweiz am ehesten mit der Rutschung von Campo Vallemaggia im Tessin vergleichen, aber dort gibt es eine andere Geologie. 

Betrachten wir die Gesteine, hat die Rutschung Brienz Ähnlichkeiten mit der Rutschung La Frasse im Kanton Waadt; auch dort gibt es die für Rutschgebiete typischen Flyschgesteine. Aber auch die grossen Bündnerschiefer-Rutschungen am Heinzenberg und im Lugnez weisen gewisse Ähnlichkeiten mit dem Brienzer Rutsch auf. 


«Die Natur setzt uns unter Zeitdruck.»

 

Was ist am Brienzer Rutsch anders als an anderen Rutschen? Was zeichnet ihn aus?

Zurzeit ist es sicher die grosse Rutschgeschwindigkeit. Kein anderer Rutsch im Siedlungsgebiet der Schweiz, der annähernd so gross ist, bewegt sich so schnell. Speziell ist auch, dass Brienz/Brinzauls gleichzeitig durch verschiedene Prozesse gefährdet ist. Das ganze Dorf bewegt sich mit mehr als einem Meter pro Jahr talwärts und gleichzeitig kann auch ein Bergsturzereignis aus den Felsmassen über dem Dorf nicht ausgeschlossen werden.


Im Vergleich zu anderen Tunnels oder Stollen in den Alpen dauerten die Studien und die Vorbereitung für den Sondierstollen nur sechs Monate. Warum ging das so schnell?

Im Gegensatz zu einem Strassen- oder Bahntunnel oder einem Kraftwerkstollen ist unser Sondierstollen kein permanentes Bauwerk, das für eine Nutzungsdauer von 90 Jahren gebaut wird. Bei der Planung können deshalb gewisse Planungsschritte eher offengelassen werden oder sie fallen ganz weg.

Die Natur setzt uns aber auch unter Zeitdruck: Weil die Rutschung und ein möglicher Bergsturz Brienz/Brinzauls, Vazerol, Teile von Surava und Tiefencastel sowie mehrere wichtige Verkehrswege bedrohen, duldet das Projekt keine Verzögerung. Wo immer möglich wurden deshalb mehrere Planungsschritte parallel ausgeführt, die normalerweise nacheinander ablaufen. Alle Projektbeteiligten haben am selben Strick gezogen und die Gemeinde und der Kanton gaben diesem raschen Verfahren den nötigen Rückhalt.


Warum geht das nicht immer so schnell?

Ein Tunnelbauwerk ist immer teuer. Da will man keine kostspieligen Fehler in der Ausführung machen. Im Normalfall sind deshalb mehrere Projektierungsschritte vorgesehen, von der Vorstudie über ein Vorprojekt bis zum Bau- und Auflageprojekt. Das dauert halt seine Zeit. Meistens mehrere Jahre.


Es hat also pressiert. Sind Sie denn sicher, dass Sie nichts Wichtiges vergessen haben

Bei einem Stollenbau ist man nie zu 100 Prozent vor Überraschungen sicher, egal, wie lange man an der Planung arbeitet. Wir untersuchen die Rutschung aber schon seit drei Jahren intensiv und konnten in dieser Zeit viele wichtige Erkenntnisse gewinnen, welche in die Planung eingeflossen sind. Dennoch gibt es Unsicherheiten. Aber genau diese wollen wir mit dem Sondierstollen auch erkunden, bevor wir ihn zu einem dauerhaften Drainagestollen aus- und weiterbauen.


Sie haben als Geologe die wissenschaftliche Basis geliefert. Welche Fachgebiete waren und sind sonst noch wichtig auf dem Weg zum Baustart?

Die Fragestellungen sind oft interdisziplinär, weshalb wir auch mit anderen Fachspezialisten zusammenarbeiten. Wasser ist zum Beispiel ein wichtiges Thema: die von uns entnommenen Wasserproben werden im Labor von Chemikern untersucht und zur Abschätzung der Schmelzwasserinfiltration arbeiten wir mit Spezialisten vom SLF Davos zusammen. Eine weitere Disziplin ist die Geophysik: in den Bohrlöchern wurden verschiedene geophysikalische Untersuchungen durchgeführt. Und sowohl am Berg als auch im Dorf haben wir auch seismische Messungen ausgeführt.  


Was alle sich fragen: Wird der Stollen den Rutsch stoppen können?

Der Sondierstollen allein wohl eher nicht; das erachten wir zum jetzigen Zeitpunkt als eher unwahrscheinlich. Aber das ist auch nicht das primäre Ziel des Sondierstollens. Er ist eine erste Etappe: zur Erkundung, ob ein definitiver Entwässerungsstollen möglich wäre und funktionieren könnte.


Der Stollen ist erst einmal ein Tunnel, in den ein kleinerer Lastwagen passt. Das reicht aber wohl noch nicht, um den Rutsch zu bremsen. Was macht aus dem Stollen einen Entwässerungsstollen?

Der Stollen selbst und seine Grösse sind nicht unbedingt ausschlaggebend. Das besondere bei einem Drainagestollen sind die Drainagebohrungen. Dabei wird aus dem Stollen in das darüber liegende, stabile Gebirge und vielleicht auch in die Rutschmasse gebohrt. Durch diese Bohrungen kann dann Wasser aus dem Gestein in den Stollen ablaufen und so den Rutsch entwässern.

Im Sondierstollen sind rund zehn dieser Bohrungen geplant. Später, falls er zu einem Drainagestollen ausgebaut wird, könnten es mehrere Dutzend oder sogar hunderte sein.

 

«Es geht vor allem darum, den Druck des Wassers im Berg zu reduzieren.»

 

Sie lassen also Wasser aus dem Berg ablaufen. Mit wie viel Wasser muss man da rechnen? Kommen da ganze Bäche aus dem Berg oder nur gerade ein paar Badewannen pro Tag?

(überlegt und lächelt) Die Prognose des Bergwasseranfalls im Untertagebau ist etwas vom Schwierigsten. Der Flyschfels ist grundsätzlich sehr schlecht durchlässig und Wasser ist nur im Bereich von gestörtem oder klüftigem Fels zu erwarten. Wo wie viele dieser Zonen vorkommen und wie ausgeprägt sie sind, wissen wir nicht genau. Aufgrund unserer Erfahrungen in anderen Untertagebauten erwarten wir aber keine grossen Bergwassermengen. Die schiere Menge des Wassers ist aber auch nicht so entscheidend. Es geht vor allem darum, den Druck des Wassers im Berg zu reduzieren. 


Wenn der Sondierstollen gute Ergebnisse liefert, soll er im zweiten Schritt zu einem Entwässerungsstollen ausgebaut und langfristig betrieben werden. Was heisst «gute Ergebnisse»? Was muss der Sondierstollen leisten, dass Sie danach weitermachen?

Ein erstes Ziel ist es, zu zeigen, ob der Fels unterhalb der Rutschung und die Rutschmasse selbst überhaupt entwässert werden können. Wir wollen nachweisen, dass eine gewisse Wassermenge vom Gebirge in den Stollen abfliesst. Falls dieser Abfluss in der Folge auch zu einer Absenkung des Wasserspiegels unterhalb oder innerhalb der Rutschung führt, wären das gute Ergebnisse.


Kritiker sagen, die Bohrungen von unten in den Rutsch würden immer wieder abreissen, weil das Gelände sich laufend verschiebt. Heisst das, dass man nachher jedes Jahr neue Bohrungen machen und berappen muss?

Vermutlich wird man in einem ersten Schritt die Bohrungen nicht hinauf bis in den Rutsch, sondern nur im stabilen Fels darunter ausführen. Ob wir später weiter bis in den Rutsch hineinbohren, hängt davon ab, ob die Bohrungen im stabilen Fels bereits eine Wirkung zeigen und sich die Rutschung dadurch verlangsamt. Müssen zusätzlich Bohrungen von unten in den Rutsch gebohrt werden, ist es möglich, dass diese zuerst abreissen werden. Wenn genügend solche Bohrungen ausgeführt werden und die erwünschte Wirkung zeigen, erwarten wir aber eine Verlangsamung oder im besten Fall einen Stopp der Rutschbewegungen. Die «Lebensdauer» solcher Bohrungen hängt also davon ab, wie rasch und wie stark wir die Rutschbewegungen reduzieren können. 


Einige Hauseigentümer befürchten, dass der Stollen zu Geländesenkungen führen könnte, die dann die Häuser beschädigen. Können Sie sie beruhigen?

Es ist bekannt, dass Drainagemassnahmen auch zu Geländesetzungen führen können. Auch aus diesem Grund hat man den Sondierstollen möglichst ausserhalb des Siedlungsgebiets geplant. Bevor wir mit dem Bau des Sondierstollens beginnen, wird zudem der Zustand der Häuser durch eine Fachperson aufgenommen. Während des Baus werden wir dann engmaschige Überwachungsmessungen durchführen. So können wir allfällige Geländesetzungen frühzeitig erkennen und bei Bedarf Massnahmen treffen. 

 

Daniel Figi

Der Geologe/Geotechniker war 2011 zum ersten Mal auf dem Brienzer Rutsch. Beruflich befasst er sich seit 2018 mit ihm. Die Tätigkeit von Daniel Figi ist eine Kombination von strategischer Planung, Beobachtungen im Feld und der Auswertung und dem Vergleich von Daten. Die Modelle, die er mit seinen Kollegen daraus bildet, ermöglichen Fachleuten und Laien ein Verständnis der komplexen Zusammenhänge in einem Berg und einer Rutschung.

Daniel Figi (39) lebt mit seiner Familie in Chur. Er mag Teamarbeit und liebt die Schönheit, Vielfältigkeit und (Un-)berechenbarkeit der Natur.

 

Christian Gartmann ist seit 2019 der Beauftragte Kommunikation und Medien der Gemeinde Albula/Alvra im Zusammenhang mit dem Brienzer Rutsch.