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«Die Natur gibt vor, was machbar ist»

Der Geologe Thomas Breitenmoser leitet die Untersuchung des Brienzer Rutsches, der in der Bündner Gemeinde das Dorf Brienz/Brinzauls bedroht. Riesige Bohrmaschinen und Sprengstoff gehören genauso in sein Instrumentarium wie die Suche nach winzigen Spuren in Wasserproben und das Wälzen von Fachliteratur über Rutschungen weltweit.

Die Gemeinde Albula/Alvra informiert in einem monatlichen Bulletin über die aktuelle Lage und die laufenden Arbeiten. In einem vertiefenden Interview wird jeweils ein Teilbereich vorgestellt.

 

Welche Aufgaben haben Sie in der Organisation der Gemeinde zum Brienzer Rutsch? 

Wir versuchen zu verstehen, warum der Brienzer Rutsch aktiv ist. Wenn wir mehr über den Rutsch und seine Ursachen wissen, können wir abschätzen, ob es denkbar ist, die Rutschbewegungen durch technische Eingriffe zu verlangsamen oder sogar zum Stehen zu bringen.

Vereinfacht gesagt zeichnen Sie ein Bild vom Untergrund, auf dem Brienz/Brinzauls steht und rutscht. Welche sind die wichtigsten Methoden, um dieses Bild zu zeichnen?

2018 und 2019 haben wir im Gebiet rund um das Dorf Brienz/Brinzauls acht Sondierbohrungen auf bis zu 218 m Tiefe gemacht. Diese Bohrungen sind feine Nadelstiche in einem sehr grossen Gebiet. Sie zeigen uns, wie der Untergrund dort aussieht und sich bewegt. Um die Fläche zwischen den Bohrungen darzustellen, machen wir geophysikalische Untersuchungen. Mit Messungen zur Ausbreitung von Schallwellen (ausgelöst durch kleine Sprengungen) und zum elektrischen Widerstand des Bodens können wir vor allem die Basis der Rutschung über das gesamte Gebiet der Rutschung erfassen und darstellen. Um mehr über das Wasser in der Rutschung zu lernen, überwachen wir zudem Quellen, analysieren Wasserproben im Labor und machen Markierversuche.


Was haben Sie herausgefunden?

Das Dorf Brienz/Brinzauls steht auf einem bis zu 150 Meter mächtigen, verrutschten Felspaket, das sich momentan mit etwa 1.2 m pro Jahr talwärts Richtung Albula bewegt. Diese riesige, rutschende Masse besteht aus zerbrochenen Felspaketen oder Rutschschollen, die sich unterschiedlich schnell bewegen.

An der Unterseite des Pakets befindet sich der sogenannte Rutschhorizont. Das ist eine mehrere Meter mächtige Schicht aus extrem zerriebenem und zerbrochenem Lockergestein. Es enthält viel Wasser und ist sehr lehmig. Darunter liegt dann das stabile Gebirge, in dem keine Bewegungen stattfinden. 


Sie bohren, sprengen, setzen den Untergrund unter Strom und analysieren Wasser. Ist es normal, dass man ein Rutschgebiet so umfassend untersucht?

Der Aufwand, den man für geologische Untersuchungen betreibt, hängt davon ab, wie wichtig ein Projekt ist. Will man eine Rutschung verstehen, und denkt man daran, sie zu sanieren, sind umfangreiche Untersuchungen zwingend nötig. In Brienz/Brinzauls sind die Verhältnisse sehr komplex. Einmal rutscht das Dorf selber und wird dadurch immer mehr beschädigt. Zusätzlich können Sturzprozesse aus dem Hang das Dorf und Teile von Vazerol, Surava und Tiefencastel sowie Verkehrswege, Leitungen und den Fluss Albula gefährden. Läge der Brienzer Rutsch in einem nicht oder nur schwach besiedelten Gebiet und würde keine Gefährdung für die Bevölkerung be-stehen, würde man sicherlich nicht so intensiv untersuchen.
 

Wissen Sie jetzt, wie es unterhalb von Brienz/ Brinzauls und oberhalb im Berg aussieht?

Rund um das Dorf und bis hinunter zur Albula wissen wir schon recht genau, wie die Rutsch-masse aufgebaut ist, wie mächtig sie ist und in welcher Tiefe die Bewegungen stattfinden. Am Berg oberhalb des Dorfes fehlen uns diese Informationen noch und auch der Zusammenhang zwischen den beiden Rutschungen am Berg und unter dem Dorf kennen wir noch nicht. Deshalb führen wir ab Mitte Mai bis in den Spätherbst weitere geologische Untersuchungen am Berg durch. Herzstück der Untersuchungen sind vier weitere Sondierbohrungen. Zudem überwachen wir die Quellen im Gebiet und erweitern den im Juni 2019 gestarteten Markierversuch zur Erforschung der unterirdischen Fliesswege des Wassers.


Das Wasser wird immer wieder als wichtigster Treiber des Rutsches bezeichnet. Dazu gibt es bei den Einheimischen viel Wissen, das seit Generationen überliefert ist. Hören Sie auch auf dieses alte Wissen?

Wir sind sehr froh um Hinweise jeglicher Art aus der Bevölkerung und lassen diese in unsere Untersuchungen und Überlegungen ein-fliessen, auch wenn das vielleicht nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist. So haben wir im Herbst im Gebiet Plang Siz eigens eine Kernbohrung gemacht, um ein Wasservorkommen zu untersuchen, das dort vermutet wurde. Es hat sich gezeigt, dass zwar Wasser vorhanden ist, aber nicht in dem Masse, wie man es vermutet hatte. Zudem wird aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung das Drainagesystems Propissi saniert.


Im Gebiet Propissi wurden vor mehr als 100 Jahren offene Kanäle gebaut. Vor 40 Jahren kamen die Leitungen in den Boden. Nun werden wieder mehr als fünf Kilometer offene Kanäle neu gebaut. Warum jetzt wieder die offenen Kanäle?

Offene Gräben und Kanäle sind einfacher zu kontrollieren und zu unterhalten. In einem Ge-biet, das in Bewegung ist, reagieren sie gegenüber Rutschbewegungen gutmütiger und sind flexibler als steife Rohre im Boden. Wenn eingegrabene Rohre in einer Rutschung brechen, verlieren sie das gesammelte Wasser wieder. Oft merkt man das gar nicht. Ein defektes Entwässerungssystem ist deshalb noch schlechter als gar keines. Ein Nachteil von offenen Gräben und Kanälen ist allerdings, dass der Landwirtschaft eine gewisse Fläche verlorengeht. Zudem sind sie für Strassen, Wege und die Bewirtschaftung Hindernisse. Im neuen Projekt werden deshalb fast 30 kleinere und grössere Übergänge über die Kanäle gebaut.


Was erwarten Sie von der Sanierung des Entwässerungssystems Propissi?

Wir gehen allen Spuren nach. Es schadet sicher nicht, wenn oberflächlich anfallendes Quell-, Regen- und Schmelzwasser gefasst und ausserhalb der Rutschung abgeleitet wird, damit es nicht in die Rutschung hineinfliessen kann. Aber man darf sich auch nicht zu viel erhoffen. Nach allem, was wir bisher wissen, ist das Oberflächenwasser nicht der Hauptfaktor für die Rutschbewegungen. Im besten Fall kann aber ein positiver Effekt durch eine Verlangsamung der Rutschung eintreten. 


Kommt das Wasser aus der Tiefe? Woher stammt es?

Wir vermuten, dass Wasser, das tief im Berg zirkuliert, eine grössere Rolle spielt als Wasser, das von oben in die Rutschmasse versickert. Das Wasser im festen Fels unterhalb der rutschenden Masse steht unter Druck. Es wirkt von unten wie ein Auftrieb auf die rutschende Masse und begünstigt so die Rutschbewegungen.

Woher dieses Wasser genau stammt, können wir noch nicht sagen. Der im letzten Sommer gestartete Markierversuch hat noch keine Resultate geliefert, die uns Hinweise auf diese Thematik geben. Auch die bereits vorliegen-den Daten aus der Quellüberwachung und die Laborresultate der Wasserproben liefern noch keine abschliessenden Resultate. Darum werden diese Untersuchungen auch in diesem Jahr weitergeführt und ergänzt.


Grosse Hoffnungen werden jetzt auf einen Stollen unter dem Dorf gesetzt, mit dem man dem Rutsch das Wasser entziehen könnte. Wie weit sind Sie mit diesem Projekt?

Wir haben weltweit Sanierungsmassnahmen bei Rutschungen mit dem Brienzer Rutsch verglichen. Dabei hat sich gezeigt, dass Wasser oft eine Schlüsselrolle spielt. An mehreren Beispielen haben wir gesehen, dass ein Drainagestollen im festen Fels unter der Rutschung Erfolg haben könnte. Aus einem solchen Stollen könnte man von unten in die Rutschung bohren und sie so entwässern.

Als erstes planen wir einen Sondierstollen unter das Dorf. Er wird kleiner sein als der spätere Drainagestollen und soll uns zeigen, ob eine Entwässerung der Rutschung überhaupt funktionieren könnte. Er wird uns also zeigen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Im Idealfall wird er auch schon eine gewisse Entwässerung bringen und zu einer Verlangsamung der Rutschbewegungen führen. In diesem Fall könnte man ihn auch zu einem grösseren Drainagestollen ausbauen.


Die Zeit drängt. Warum zuerst ein kleiner Stollen? Wäre es nicht einfacher, wenn man direkt den Entwässerungsstollen bohrt?

Einen solchen Stollen kann man nicht «einfach» und ohne genaue Abklärungen bauen. Das ist ein ausgewachsener Tunnel, in dem ein Lastwagen fahren könnte. Bevor man ein so grosses Bauvorhaben beginnt, braucht es sehr umfangreiche Abklärungen, da untertage viele Gefahren bestehen. Die Geologie, der Tunnelbau im Berg, die Verwendung oder Deponierung des Ausbruchmaterials, die Auswirkungen auf die Umgebung und die Umwelt sowie die Kosten sind nur einige der Themengruppen, die trotz allem Zeitdruck seriös abgeklärt werden müssen.


Kann man das alles beschleunigen?

Das tun wir bereits. Normalerweise würde man die Planung des Sondierstollens noch nicht beginnen, bevor nicht zahlreiche andere Abklärungen gemacht wurden. Jetzt klären und planen wir gewisse Aspekte parallel und gewinnen so wertvolle Zeit. Dabei besteht ein Risiko, dass man vielleicht falsch liegt und gewisse Arbeiten umsonst sind. Dieses Risiko nimmt man angesichts der Dringlichkeit hier aber bewusst in Kauf. Wenn alles optimal läuft, habe ich die Hoffnung, dass wir 2021 mit dem Bau des Sondierstollens beginnen können. 


Verstehen Sie, wenn Einheimische und Zweitwohnungsbesitzer ungeduldig sind und schnelle Lösungen verlangen?

Natürlich! Brienz/Brinzauls ist ihr Zuhause, hier sind viele von ihnen aufgewachsen. Hier stehen ihre Häuser und Höfe, in die sie viel Geld und ihr Herzblut investiert haben. Hier will man nicht wegziehen. Hier ist es wunderschön.

Leider sind die geologischen Verhältnisse beim Brienzer Rutsch aber auch enorm komplex. Einfache Lösungen gibt es hier nicht. Wir setzen alles daran, die Rutschung möglichst rasch und dabei gründlich zu verstehen. Erst dann können wir Massnahmen ergreifen, die auch einen Erfolg versprechen. Die schnellste Lösung ist nicht unbedingt die beste.


Normalerweise befassen sie Sie sich mit Stauseen, Deponien, Tunnels, Bergwerken und anderen Bauprojekten über und unter der Erde. Ist der Brienzer Rutsch für Sie etwas Besonders?

Der Brienzer Rutsch ist auf jeden Fall etwas ganz Besonderes. Beruflich ist das ein enorm komplexes Projekt, das ein Geologe wahrscheinlich nur einmal in seinem Berufsleben begleiten darf. Zur Komplexität kommt die hohe Dringlichkeit: Wir müssen rasch Erkenntnisse gewinnen und Lösungen vorschlagen, die den Menschen im Gebiet ein sicheres Le-ben in ihrem Zuhause ermöglichen.


Sie tragen eine grosse Verantwortung. Wie gehen Sie damit um?

Ich kann mich auf ein eingespieltes Team von Geologen verlassen. Gemeinsam arbeiten wir daran, den Brienzer Rutsch zu verstehen, um möglichst rasch Klarheit zu schaffen, ob und wie eine Sanierung und damit eine Normalisierung der Situation möglich ist oder eben nicht. Wir diskutieren viel, wägen ab, entscheiden gemeinsam und teilen uns damit auch die Verantwortung auf. Nur so funktioniert es.

Wenn wir die zahllosen Zusammenhänge verstehen und diese zu einem grossen Ganzen zusammenführen, gelingt es im besten Fall, eine Grundlage für eine erfolgreiche Sanierung der Rutschung zu schaffen. Leider ist das aber nicht sicher. Unsere Arbeiten können auch zur Erkenntnis führen, dass die erhoffte Sanierung trotz aller Anstrengungen nicht möglich sein wird. Die Natur gibt uns vor, was machbar ist und was wir besser sein lassen sollten 

 

Zur Person:

Thomas Breitenmoser (47) wuchs in Herisau auf und studierte an der ETH Zürich Geologie. Er leitet die BTG Büro für Technische Geologie AG in Sargans und Chur und befasst sich seit 2018 intensiv mit dem Brienzer Rutsch. Als Geologe ist er gewohnt, die verschiedensten Phänomene, Prozesse und Veränderungen in der Natur zu entdecken und zu verstehen.

Besonders reizt ihn dabei die Kombination von Wissenschaft und Praxis: In der freien Natur führt er Untersuchungen durch und sammelt Proben und Daten. Danach analysiert er sie akribisch, beschreibt seine Feststellungen und vermittelt sie Fachleuten anderer Gebiete, Behörden oder der betroffenen Bevölkerung.

 

Interview: Christian Gartmann. Christian Gartmann ist seit 2019 Kommunikations- und Medienbeauftragter der Gemeinde Albula/Alvra für den Brienzer Rutsch.