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Mit Haut und Haaren

Wenn Gian Gilli irgendwo im Engadin auf die Strasse geht, wird er erkannt und gegrüsst. Kaum ein Engadiner ist so breit akzeptiert wie der Sportmanager, Projektpromotor und Coach. Erfolge und Misserfolge prägten sein Leben. Die Coronakrise macht ihn nachdenklich - und optimistisch zugleich.

(c) Philipp Müller | www.philippmueller.co.uk/

Gian Gilli mag die Menschen, das spürt man sofort, wenn man ihn trifft. Begegnungen mit Unbekannten geht er nicht aus dem Weg; er ist für jeden da, findet für jeden ein paar passende Sätze. Mit den einfachen Leuten kann er es genauso gut wie mit Spitzenmanagern oder Politikern. Die Leute vertrauen ihm, denn er verstellt sich nicht. Gian Gilli ist einfach er selbst.

Als die Coronakrise ausbrach, war er als CEO daran, die Eishockey-Weltmeisterschaften 2020 in Zürich und Lausanne zu organisieren. Schon 320'000 Tickets waren für die Spiele im Mai verkauft, als im März die Absage unumgänglich wurde. «Das war für mein Team ein Tiefschlag. Aber wir mussten auch relativieren: Die Pandemie betrifft alle Menschen und es ging darum, Leben zu retten.» Dass Gilli zuerst über sein Team spricht, ist typisch. Als CEO sieht er sich lediglich als "Primus inter Pares". Er weiss, dass das Team nur so stark sein kann wie sein schwächstes Mitglied.


«Das ist strukturierte Wildheit.»

Gilli verfügt über eine scheinbar endlose Energie: «Sportprojekte sind voll von Emotionen. Nach aussen sind es Events für die Athleten und die Fans. Nach innen geht es aber um den Teamgeist, die vielen Helfer und das Miteinander. So entsteht diese Leidenschaft, die bei allen enorme Kräfte freisetzt.» Im Kern seiner Organisationen beschäftigt er jeweils einen kleinen Kreis aus Spezialisten, denen er viel Verantwortung und Vertrauen gibt. «Ich gebe die Struktur vor und sie verantworten ihre Spezialgebiete. Das ist strukturierte Wildheit!»

Wer sich im Beruf mit Haut und Haaren einbringt, braucht einen guten Ausgleich. «Bewegung hilft», sagt Gilli dazu. «Und die Familie.» In seiner spärlichen Freizeit trifft man ihn auf dem Rennrad, dem Golfplatz, der Langlaufloipe, der Skipiste oder auf Hochtouren. «Ich brauche die Natur – am liebsten im Engadin.»

Das Engadin sei sein Kraftort, sagt er. Hier sind seine Lieblingsorte, seine Wurzeln, seine Familie. «Sie ist wie die Natur eine Kraftquelle. Meine Frau Christine hat einen enormen Anteil an allen meinen Erlebnissen; den Positiven und den Negativen. Sie hat mich immer unterstützt, mir immer zugehört; sie stand und steht immer hinter mir.»

Die Absage der Eishockey-Weltmeisterschaften war nicht die erste Niederlage des Gian Gilli. In seinem Lebenslauf stehen Erfolge und Misserfolge nebeneinander. «Es sind nicht nur die schönen Momente, die einen vorwärts bringen. Krisen prägen Dich viel mehr und bringen Dich viel weiter.» Der offene Umgang mit Hochs und Tiefs ist wohl einer der Gründe, warum Gilli sich und seiner Sache auch treu bleibt, wenn das Risiko einer Niederlage besteht.


«Ich bin auch für die schwierigen Momente dankbar.»

2013 leitete er ein Komitee, welches die Olympischen Winterspiele 2022 nach Graubünden bringen wollte. Manch einer hätte das Konzept so verbogen, dass es politisch möglichst hohe Chancen hätte und die Details erst dann preisgegeben, wenn die Abstimmung vorbei wäre. Aber Gilli ging volles Risiko, setzte auf ein nachhaltiges Konzept und volle Transparenz zu den Kosten. Er verlor die Abstimmung dann hauchdünn. Seinem Ansehen in der Region konnte die Niederlage nichts anhaben. Seine Ehrlichkeit hatte nie jemand angezweifelt.

Dennoch hatte er an diesem Abstimmungsresultat hart zu beissen, sagt er rückblickend. «Aber ich brauche auch die schwierigen Momente, die mich herausfordern. Sie zwingen mich, mich neu zu orientieren. Ich bin auch für diese schwierigen Momente dankbar.»

Der Ruf als Förderer von Talenten eilt Gian Gilli voraus. Wenn er ein Projekt angeht, stehen die Mitarbeiter meist Schlange. Darunter sind langjährige Mitstreiter, aber auch immer neue Köpfe. Gilli verlangt viel von ihnen, unterstützt sie, wenn sie Hilfe brauchen und überlässt ihnen nicht selten auch die Bühne, wenn es Erfolge zu feiern gibt.


«Man muss sich manchmal überfordern.»

So machte er 2003 die Ski-Weltmeisterschaften in St. Moritz zur WM der Voluntaris (der freiwilligen Helfer). Der Teamgeist von damals gilt noch heute als mustergültig. Die WM war sein Gesellenstück als Leiter von grossen Veranstaltungen, aber sie war für ihn auch ein Risiko: «Ich habe mich mit dieser Aufgabe masslos überfordert», sagt er heute darüber. «Aber man muss sich manchmal überfordern und etwas wagen.»

Die Ski-WM 2003 wurde zum Grosserfolg und zur WM des Gian Gilli. Danach wurde er Chef Leistungssport von Swiss Ski, organisierte die Eishockey WM 2009 in der Schweiz und führte als Delegationsleiter die Schweizer Olympiateams 2010, 2012 und 2014. Neben organisatorischem Geschick und Durchsetzungsvermögen war Gilli auch immer wieder als Mensch gefordert.

Da war der 1. August 2012 bei den Olympischen Spielen in London: Am Nationalfeiertag wäre gleich ein ganzer Medaillensatz für die Schweizer Delegation möglich gewesen. Aber es kam anders: Superstar Fabian Cancellara stürzte im Strassenrennen und verletzte sich, Fechter Max Heinzer schied schon in der zweiten Runde aus und im Kanu-Slalom brach Mike Kurt ein Paddel und sah seine berechtigten Medaillenträume den Bach runtergehen.


«Die Demut zu sehr aus den Augen verloren.»

Abends stand eine Ansprache vor dem Schweizer Aussenminister und geladenen Gästen an. Aber Gilli versetzte sie, ging ins Olympische Dorf und stand den Athleten in den Momenten ihrer grössten Niederlagen bei. «Leistungssportler sind sich gewohnt, mit Widerständen umzugehen, sich nach Rückschlägen aufzurappeln und weiterzumachen. Sie leben diszipliniert und selbstbestimmt. Deshalb ist der Sport auch eine exzellente Lebensschule.»

Die Resilienz, also die Widerstandskraft, mit schwierigen Situationen umzugehen, sei eine Qualität, die Sportler in Krisensituationen stark mache. Wie zum Beispiel in der Corona-Krise. «Manchmal muss man zurückbuchstabieren und anerkennen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen», sagt Gian Gilli dazu. Er gewinnt der gegenwärtigen Situation auch Positives ab. «Neue Prozesse und ein neues Denken sind in Gang gekommen. Vielleicht wird die Zukunft etwas einfacher und ressourcenschonender», hofft er. «In den letzten Jahrzehnten haben wir die Demut zu sehr aus den Augen verloren.»

 

Dieser Text von Christian Gartmann erschien im Magazin «Active Alpine Lifestyle» von Skiservice Corvatsch. Es liegt in allen Filialen von Skiservice und mehr als zwei Dutzend Partnerbetrieben und Hotels gratis auf. Das Magazin kann hier auch online gelesen werden.