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Was bei anderen Rutschungen funktioniert

Wasser ist das Schmiermittel des Brienzer Rutschs, sagen die Experten. Eine lehmige Schicht lässt das Dorf Brienz/Brinzauls und den Hang darüber talwärts gleiten. Was wäre, wenn man das Wasser aus der Rutschung ableiten könnte? Würde das den Rutsch verlangsamen oder gar stoppen? Der Geologe Reto Thöny hat mit seinem Team weltweit nach ähnlichen Beispielen gesucht.

Das Tessiner Dorf Campo Vallemaggia liegt auf einem Rutschgebiet. Die Rutschung konnte durch einen Entwässerungsstollen saniert werden. Bild: ETH Bibliothek, Roger Huber

Wie viele andere Rutschungen haben Sie gefunden, die mit technischen Massnahmen beeinflusst oder «saniert» wurden?

Genügend, um im Falle von Brienz optimistisch zu sein.


Und wie viele davon waren erfolgreich, wie viele nicht?

Die in der Literatur beschriebenen Sanierungsmassnahmen waren fast alle erfolgreich. Dies dürfte aber auch damit zusammenhängen, dass man lieber über Erfolge als über Misserfolge berichtet. Das ist schade, weil man aus Teilerfolgen und Misserfolgen genauso lernen kann.


Wo haben Sie nach diesen Projekten gesucht? Wie viele Studien oder Bücher haben Sie dafür gelesen? Wie viele Seiten waren das?

(Lacht) Es waren wohl viele hundert Seiten, die wir gelesen und studiert haben. Aber nur ein kleiner Teil davon war wirklich vergleichbar und übertragbar auf den Brienzer Rutsch. Denn was anderenorts funktioniert hat, muss nicht zwangsläufig auch in Brienz erfolgreich sein.    

 

«Es gibt weltweit Beispiele von erfolgreich umgesetzten Sanierungsmassnahmen.»

 

Jede Rutschung ist anders: Andere Gesteine, andere Steilheit, andere Wasserverhältnisse im Boden. Ist ein Vergleich nicht schwierig?

Die Vergleichbarkeit ist in der Tat die grösste Herausforderung bei solchen Literaturstudien. Man muss die einzelnen Rutschungen und die Sanierungsprojekte dafür sehr genau studieren und dann abwägen, was wichtig ist. Daher waren wir auch nicht auf der Suche nach dem perfekten Ebenbild der Rutschung Brienz. Vielmehr wollten wir herausfinden, welche Sanierungsmassnahmen bei ähnlich grossen Rutschungen oder bei ähnlichen geologischen und hydrogeologischen Verhältnissen gut oder eben nicht gut funktioniert haben.


Wie kann man beurteilen, was von den anderen Rutschungen bei uns funktionieren könnte und was eher nicht?

Um das zu beurteilen, muss man die Rutschungen genau kennen und vergleichen. Deshalb waren unsere ausführlichen Untersuchungen mit zahlreichen Bohrungen und mehrjährigen Felduntersuchungen so wichtig. Die Auswertungen der letzten vier Bohrungen auf der Rutschung Berg konnten erst vor kurzem abgeschlossen werden.


Das bekannteste Beispiel eines funktionierenden Drainagestollens liegt nicht einmal 100 Kilometer vom Brienzer Rutsch im Tessiner Maggiatal. Können Sie die Rutschung von Campo Vallemaggia beschreiben?

Die Rutschung Campo Vallemaggia im Val di Campo ist flächenmässig rund doppelt und volumenmässig rund viermal so gross wie jene von Brienz. Die Rutschgeschwindigkeiten vor der Sanierung lagen deutlich unter den aktuell gemessenen in Brienz, aber die beiden auf der Rutschung liegenden Dorfteile Campo und Cimalmotto erlitten dennoch erhebliche Schäden.

 

«Die Rutschbewegungen konnten innerhalb kurzer Zeit fast vollständig gestoppt werden.»


Was hat man dort zur Sanierung getan?

Die Experten waren sich nicht einig, ob die Wasserdrücke im Untergrund oder die starke Erosion durch den Fluss Rovana am Fuss der Rutschung die Hauptursache der Rutschbewegungen darstellen. Deshalb wurden ein Entwässerungstollen unter die Rutschung und ein Hochwasser-Umleitstollen für die Rovana erstellt.


Und hat es funktioniert? 

Ja, der Entwässerungsstollen hat funktioniert. Die Rutschbewegungen konnten innerhalb kurzer Zeit fast vollständig gestoppt werden. Beide Dorfteile auf der Rutschung sind seither wieder normal bewohnbar. Die Wirksamkeit des Umleitstollens konnte jedoch nicht mehr nachgewiesen werden.


Gibt es weitere Rutschungen, die technisch saniert werden konnten?

Ja, in der Literatur finden sich weltweit Beispiele von erfolgreich umgesetzten Sanierungsmassnahmen. Wenn man sie studiert, fällt auf, dass man bei Sanierungen von grossen Hangbewegungen fast ausschliesslich auf Tiefenentwässerungsmassnahmen setzt. Mit den beiden Rutschungen La Frasse und Arveyes im Kanton Waadt und der Rutschung Montagnon im Wallis finden sich auch in der Schweiz drei Praxisbeispiele, bei welchen Entwässerungsmassnahmen erfolgreich waren. 


Ein Drainagestollen, wie er dereinst unter dem Brienzer Rutsch gebaut werden könnte, ist eine der möglichen Massnahmen, die Sie in Ihrem Bericht beschreiben. Welche anderen Massnahmen gibt es, die bei anderen Rutschungen Erfolg hatten? 

Bei Rutschungen in der Westschweiz zeigten auch Vertikal- und Horizontalbrunnen gute Erfolge. Hier im Kanton Graubünden konnten durch das Anheben von Flüssen mittels Verbauungen grosse Rutschungen wie in Schuders oder am Heinzenberg ganz oder teilweise stabilisiert werden.


Und warum kommen die bei uns nicht in Frage?

Für Entwässerungsbrunnen sind die Rutschgeschwindigkeiten in Brienz im Moment zu hoch. Die Brunnen würden entlang der Rutschbasis abscheren, noch bevor sie eine ausreichende Wirkung erzielen könnten. Eine wirksame Anhebung der Albula ist nur sehr begrenzt möglich, weil Surava dafür zu tief liegt. Und eine künstliche Anhebung der ganzen Talsohle und die Verlegung der Albula in einen Tunnel wären zwar denkbar, aber ein sehr grosser Eingriff in die Umwelt.


In Ihrem Bericht beschreiben Sie vor allem Sanierungsmassnahmen für Rutschungen in der Schweiz. Gibt es im Ausland solche Projekte gar nicht?

Doch, diese gibt es sehr wohl. Leider finden sich in der Literatur aber nur wenige gut dokumentierte Sanierungsbeispiele aus dem Ausland. In unserer Studie haben wir aber auch Fallbeispiele aus Kanada und Italien berücksichtigt. Die Wirkungen waren dort ähnlich wie bei den Beispielen aus der Schweiz.


Nun haben die Arbeiten am Sondierstollen unterhalb Brienz/Brinzauls begonnen. Wie lautet Ihre Prognose: Wird es funktionieren?

Eine Prognose abzugeben, ist im Falle des Brienzer Rutsches äusserst schwierig. Die laufenden geologischen Detailuntersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Der Sondierstollen wird jedoch zeigen, ob die Variante einer Tiefenentwässerung mittels Drainagestollen am Standort Brienz die gewünschte Wirksamkeit erzielt.

 

«Ich bin optimistisch»

 


Bis wann wissen wir, ob es funktioniert?

Wenn wir mit dem Sondierstollen planmässig vorankommen, sollten wir im Frühjahr bis Sommer des nächsten Jahres mehr wissen. Die Reaktion der Rutschung auf den Sondierstollen wird aber bis Ende 2023 weiter messtechnisch überwacht und beurteilt.


In Campo Mallemaggia sind auch Setzungen des Geländes festgestellt worden. Müssen sich nun die Land- und Hausbesitzer:innen in Brienz/Brinzauls darauf gefasst machen, dass sich durch den Bau des Stollens ihre Grundstücke verändern?

Bei jedem Tunnelbauwerk muss mit Setzungen an der Geländeoberfläche gerechnet werden, so auch beim Sondierstollen. Die Geländesetzungen dürften direkt über dem Stollen am grössten sein. Deshalb führt der Sondierstollen nicht bis unter das Dorf. Das ganze Gebiet wird vor, während und nach dem Bau des Sondierstollens mittels hochpräziser GPS-Messungen engmaschig überwacht.


Im Moment hoffen wir natürlich alle, dass die Sanierung des Brienzer Rutsches gelingt. Was kann man machen, wenn der Stollen nicht erfolgreich ist? Haben Sie in den vielen anderen Rutschungen andere Ideen gefunden?

Bei Rutschungen, die wir studiert haben, war die Tiefenentwässerung immer das zentrale Element der Sanierung. Falls der Sondierstollen unter dem Brienzer Rutsch zeigt, dass eine Tiefenentwässerung hier nicht die gewünschte Wirksamkeit bringt, müsste man prüfen, ob man mit der Kombination verschiedener Massnahmen etwas erreicht.

Schlussendlich wird die Natur uns vorgeben, was technisch machbar ist. Wir sollten aber nichts unversucht lassen. Und wie ich ganz am Anfang schon gesagt habe: Ich bin optimistisch.

 

Zur Person

Reto Thöny, Ingenieurgeologe/Hydrogeologe ETH, befasst sich seit 2018 intensiv mit dem Brienzer Rutsch. Zusammen mit seinem Team der BTG Büro für Technische Geologie AG hat er weltweit nach Beispielen gesucht, wie Rutschungen durch technische Massnahmen stabilisiert werden können. 

An seiner Tätigkeit begeistert ihn das komplexe Zusammenspiel der geologischen und hydrogeologischen Prozesse bei der Rutschung Brienz und die Möglichkeit, mit dem Fachwissen dazu beizutragen, die Ursachen der Rutschung zu verstehen und eine Lösung dafür zu finden, dass die Bewohner:innen von Brienz/Brinzauls weiterhin in ihrem Dorf bleiben können.

Reto Thöny ist 39 Jahre alt; er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Igis.

 

Dieses Interview wurde am 6. August 2021 im monatlichen Informationsbulletin der Gemeinde Albula/Alvra zum Brienzer Rutsch publiziert.

 

Christian Gartmann ist seit 2019 Beauftragter Kommunikation und Medien der Gemeinde Albula/Alvra zum Brienzer Rutsch.