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Unser «grosser Kanton»

«Der Gipfel von Le Prese» hatte im Vorfeld kaum irgendwo für Aufmerksamkeit gesorgt. Nur wenige hatten vom Arbeitsgespräch zwischen den Regierungen Graubündens und der Lombardei erwartet, dass es zu konkreten Resultaten führen würde. Das Treffen hatte es aber in sich.

Wenn grössere Regierungsdelegationen zusammenkommen, unterzeichnen sie normalerweise bereits ausverhandelte Verträge und tauschen an der Öffentlichkeit Nettigkeiten aus. Je nach Bedeutung des anderen Landes wird eine Delegation mit mehr oder weniger wichtigen Persönlichkeiten ausgestattet.


Betrachtet man die Grössenverhältnisse, ist Graubünden neben der Lombardei ein wahrer Zwerg: Fast 10 Millionen Einwohner und eine hoch leistungsfähige Wirtschaft machen die Region zur viertgrössten Volkswirtschaft Europas. Daneben nimmt sich Graubünden mit seinen nicht einmal 200'000 Einwohnern wahrhaft winzig aus. Aus Mailand war dennoch eine hochkarätige und sehr gut vorbereitete Delegation mit dicken Dossiers angereist: Der Parlamentspräsident, der Vizepräsident der Region und eine Reihe wichtiger Kommissionsmitglieder und Chefbeamte stemmten über 200 Seiten dicke Dokumentationen auf den Verhandlungstisch. Sie hatten sich gut vorbereitet.


Die Gespräche blieben denn auch nicht an der Oberfläche: Zu Wirtschaft, Verkehr, Gesundheit und Sicherheit hatten die Gäste aus Italien konkrete Fragen und Vorschläge mitgebracht und diskutierten mit der Bündner Seite sehr engagiert. Für eine Reihe von Themen wurden auch gleich Arbeitsgruppen beschlossen, welche konkrete Projekte vorwärtstreiben sollen.


Dass die europäische Wirtschafts-Grossmacht Lombardei den kleinen Nachbarn besucht, ist mehr als nur eine Geste des Goodwills: Die Gespräche fanden auf Augenhöhe statt und zeigten, dass Mailand und Sondrio echtes Interesse an einer Kooperation mit Chur und Poschiavo haben. In der ständig wachsenden, aber auch ständig kriselnden Europäischen Union tun immer mehr Regionen, was sie vor der Schaffung des vereinigten Binnenmarktes schon taten: Sie interessieren sich wieder mehr für ihre direkten Nachbarn, denn die verstehen sie.


Die lombardische Delegation hat bei mir einen starken Eindruck hinterlassen: Unsere Nachbarn haben ein echtes Interesse, mit uns zu kooperieren. Sie respektieren die spezifische Schweizer Situation, auch wenn Volksentscheide wie eine Masseneinwanderungsinitiative uns in ihren Augen nicht gerade zu einem attraktiveren Verhandlungspartner machen.


Über weite Strecken der Gespräche hatte ich das Gefühl, dass die Lombarden uns besser verstehen als viele Miteidgenossen. Verständlich: Sie sind uns näher, sprechen im direkten und übertragenen Sinn unsere Sprache und sie sind in Italien in einer ähnlichen Situation wie wir. In wichtigen Themen fühlen sie sich durch die Politik ihres Landes und die der EU nicht immer verstanden. Anliegen aus Mailand oder Sondrio finden in der Kakophonie der italienischen Tagespolitik wenig oder gar kein Gehör.


Was die Basler, Schaffhauser und Thurgauer uns mit dem «grossen Kanton» im Norden schon lange vormachen, sollte uns ein Beispiel sein: Ob in der Politik oder der Wirtschaft: Als Bündner – und speziell als Südbündner – tun wir gut daran, die Lombardei nicht aus den Augen zu verlieren. Statt auf Bern zu warten und uns über fehlendes Musikgehör für unsere Anliegen zu wundern, sollten wir die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn suchen und die Beziehungen aktiv pflegen. Die Lombardei ist unser grosser Nachbarkanton.

 

 

Diese Kolumne erschien in der Engadiner Post vom 30. September 2014

 

Alessandro Della Vedova ist Vizepräsident der CVP Graubünden, Grossrat Kreis Poschiavo und Podestà  der Gemeinde Poschiavo. Er ist italienisch-schweizerischer Doppelbürger und arbeitete viele Jahre in Mailand.