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«Die magischen Momente liegen ausserhalb der Komfortzone»

Nach einer langen Karriere als Sportmanager und Coach verbrachte der Engadiner Gian Gilli die letzten drei Sommer als Hirte auf einer Alp. Dass das Engadin sich für neue sportliche Grossanlässe interessiert, begrüsst er. Für sich selbst setzt er heute mehr auf Langsamkeit.

Selfie mit Rindvieh: Gian Gilli (links) mit einem der 300 Tiere, für die er zusammen mit Riet Planta im vergangenen Sommer verantwortlich war.

Der Sport ist Gian Gillis Leben: Er war Turn- und Sportlehrer, Langlauf-Nationaltrainer, Delegationsleiter an Olympischen Spielen, Organisator von Ski- und Eishockeyweltmeisterschaften und Olympia-Promotor. Nun hat der gebürtige Zuozer den dritten Sommer auf der Alp Timun in der Val Laviruns verbracht. «Ich bin freischaffender Hirte und Pensionär geworden», sagt er. Auf rund 1000 Hektaren weiden Mutterkühe mit ihren Jungtieren. «Wir arbeiten zu zweit und betreuen bis zu 300 Tiere.» Die Val Laviruns ist ein Seitental der Val Chamuera ob La Punt. «Wir bewegen uns zwischen 2'300 und 3'000 Meter – und nur zu Fuss.»

Auf der Alp habe er gelernt, einfach zu leben: «Deine Beine ersetzen Dein Auto, Deine Muskelkraft die meisten Maschinen, Deine Ideen den Gang zum Baumarkt.» Vor allem geniesse er die Ruhe und Abgeschiedenheit, erzählt Gian Gilli: «Manchmal marschiere ich frühmorgens eine ganze Stunde bergwärts, bevor ich die ersten unserer Tiere sehe. Dazwischen treffe ich aber auf Hirsche, beobachte Raubvögel oder einfach die unglaublich schöne Natur.»


Raus aus der Komfortzone

Wer den rastlosen Gian Gilli (67) von früher kennt, staunt. «Ich bin langsamer geworden und auch im Winter falle ich nicht mehr in die alten Lebensrhythmen zurück», sagt er. Langsamkeit war früher nicht sein Ding gewesen. Als Sportmanager und als Coach von Führungskräften trimmte er alles und alle auf Leistung. «Leistung ist mir auch heute noch wichtig», schränkt er ein. «Aber die Regeneration gehört genauso zum Training wie die Leistung.» Im Management, wie im Leistungssport werde die Regeneration vernachlässigt.

Sich auf eine Alp zurückzuziehen, sei der Traum vieler Manager, sagt Gian Gilli: «Aber es ist nicht einfach, die gewohnte Umgebung, den beruflichen Status und ein hohes Einkommen hinter sich zu lassen.» Auch er selbst habe nicht gewusst, ob das Experiment gutgehe. Schliesslich wagte er den Versuch, weil er ihn aus der Komfortzone reissen würde. «Die magischen Momente im Leben liegen ausserhalb der Komfortzone.» 

Ein Lackmustest für das IOC 

Aus der Komfortzone ausbrechen müsse auch die olympische Bewegung, ist Gilli überzeugt: «Das IOC muss sich stärker engagieren und die Risiken mittragen, die bei der Durchführung von Spielen entstehen.» Vor gut 10 Jahren habe das IOC die ‘Agenda 2020’ lanciert, die nachhaltigere Spiele mit einem positiven Vermächtnis fördern sollen. Aber der Beweis, dass das Ganze Hand und Fuss habe, stehe noch aus.

Die Winterspiele von 2026 in Italien könnten zu einem solchen Beweis werden, sagt Gilli. «Jetzt muss das IOC beweisen, dass die Entwicklung in eine gesunde Richtung geht.» Ein wichtiger Lackmustest war die Frage um die Bob- und Rodelbahn. Mehr als 100 Millionen hätte eine neue Bahn in Italien gekostet. Die Organisatoren zögerten sehr lange, gaben Mitte Oktober dann aber zähneknirschend bekannt, dass es in Italien keine neue Bahn geben würde. 

«Ein guter Entscheid», urteilt Gian Gilli. «So viel Geld und Umweltbelastungen in Infrastrukturen zu stecken, die der Sport langfristig wohl gar nicht braucht, wäre nicht nachhaltig.» Ob die olympischen Bob-, Skeleton- und Rodelrennen im Februar 2026 in St. Moritz-Celerina oder Innsbruck stattfinden werden, ist noch offen. «St. Moritz wäre zweifellos in der Lage, die Wettkämpfe und die Unterbringung der Mannschaften auf Olympia-Niveau durchzuführen», urteilt Gilli.


Den Anschluss nicht verpassen

Ein anderer Grossanlass, der das Engadin momentan beschäftigt, sind die neuen «FIS-Games» 2028. Alle Disziplinen des Ski- und Snowboardsports sollen an einem Ort zusammenkommen und ihre Wettkämpfe austragen. Das Konzept sieht vor, zwei Drittel der Wettkämpfe im Oberengadin auszutragen. «Eine grosse Kiste», sagt Gian Gilli mit Respekt. «Das Engadin wäre wohl der einzige Ort der Schweiz, der so etwas stemmen könnte.» Allerdings gelte es, sicherzustellen, dass die Spiele ein Vermächtnis hinterlassen. «Die Anlagen und das Know-how für Grossanlässe müssen laufend gepflegt werden. Sonst riskieren wir, den Anschluss zu verpassen.»

Die touristische Relevanz von Grossanlässen sieht Gilli differenziert: «Es muss gelingen, die Fans stark zu involvieren. Sonst bekommen wir sie nicht in grossen Zahlen ins Engadin.» Vor Ort müsse ihnen dann ein Erlebnis geboten werden, das über den Wettkampfbesuch hinausgehe: «Das Live-Erlebnis ist enorm wichtig. Unsere Fans müssen einzigartige Erinnerungen nachhause nehmen, damit sie wiederkommen. Hier können wir uns noch steigern.»

Die Idee, die FIS-Games mit dem Engadin Skimarathon zu koppeln, gefällt Gian Gilli sehr: «Für die Durchführungsorte sind Grossanlässe vor allem dann touristisch relevant, wenn die Sportart auch als Breitensport betrieben wird. Auch deshalb könnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als die Profis und die Volksläufer:innen auf derselben Strecke laufen zu sehen. Andere Sportarten machen das bereits und haben damit sehr viel Erfolg!»


FIS Games 2028

Während 16 Tagen sollen in allen Disziplinen des internationalen Skiverbandes (FIS) und in den Schneesportdisziplinen der Paralympics Medaillen vergeben werden. Die FIS Games sollen ausschliesslich auf bereits bestehenden Anlagen und an Orten durchgeführt werden, die aktuelle Erfahrung in der Durchführung von Weltmeisterschaften haben.

Das Konzept für FIS Games 2028 im Engadin sieht vor, Wettkämpfe auf Corviglia und Corvatsch (Alpin, Freestyle, Snowboard, Freeski und Speedski), in Silvaplana-Surlej (Langlauf – in Kombination mit dem Engadin Skimarathon), Zuoz (Telemark), Scuol (Snowboard Alpin), Airolo (Moguls, Aerials) sowie in Engelberg und Kandersteg (Skispringen, nordische Kombination) durchzuführen. 

Neben St. Moritz/Engadin bewerben sich auch Lillehammer/Hafjell (Norwegen).

 

Keine Olympische Winterspielen 2030 in der Schweiz

Für die Olympischen Winterspiele 2030 hat die Schweiz ein dezentrales Konzept auf bestehenden Sportanlagen vorschlagen und dazu eine Machbarkeitsstudie vorgelegt. Erstmals sollten die Spiele in einem ganzen Land stattfinden. Das IOC will dieses Konzept mit der Schweiz aber erst für die Austragung 2038 vertiefen. Die Spiele 2030 sollen in Frankreich, diejenigen 2034 in den USA stattfinden.

 

Dieser Artikel von Christian Gartmann wurde zuerst am 30. November 2023 in der halbjährlich erscheinenden Tourismuszeitung «Giazetta das Turissem» der Engadin Tourismus AG publiziert.