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«Nichts an dieser Evakuierung war einfach. Für niemanden.»

Die Bündner Gemeinde Albula/Alvra hat 2023 ein bewegtes Jahr hinter sich. Im Mai musste sie das ganze Dorf Brienz/Brinzauls evakuieren weil ein Bergsturz es zu zerstören drohte. Die Bewohner können mittlerweile wieder in ihrem Dorf wohnen, aber die Rutschung werde die Gemeinde noch auf Jahrzehnte hinaus beschäftigen, sagt Gemeindepräsident Daniel Albertin im Interview.

«Wir hoffen, die Evakuierung so kurz wie möglich halten zu können»: Daniel Albertin bei der Ankündigung der Evakuierung am 9. Mai 2023. Bild: Livestream der Gemeinde Albula/Alvra

Herr Albertin, das Jahr 2023 neigt sich dem Ende entgegen. Ein Jahr, das Sie lieber nicht erlebt hätten?

Es war ein sehr anspruchsvolles und für viele von uns sehr schwieriges Jahr. Andererseits ein sehr lehrreiches und spezielles Jahr, in dem wir durchaus auch Momente erlebten, die sehr wertvoll waren. Und auf die möchte ich im Nachhinein nicht verzichten.


Zum Beispiel?

Die Solidarität, die Brienz/Brinzauls innerhalb der Gemeinde schon seit Jahren erfährt, war im Frühsommer grossartig. Die Evakuierung hat alle sehr bewegt und jeder half, wie er konnte. Auch ausserhalb der Gemeinde hat man gespürt, dass das Schicksal von Brienz niemanden unberührt lässt. 


Hat Sie das erstaunt?

Erstaunt hat es mich nicht, aber sehr gefreut. Wenn andere Bündner Gemeinden, Private und Unternehmen spontan Geld für die evakuierte Bevölkerung spenden, wenn Zweitheimische unkompliziert ihre Wohnungen zur Verfügung stellen und nicht nur die Bündner Regierung, sondern sogar ein Bundesrat anruft und seine Hilfe anbietet, spürt man, dass das Miteinander in diesem Land noch immer gut funktioniert.


Gibt es einen Moment, der sich Ihnen besonders eingeprägt hat?

Da gibt es viele. 2023 war für mich vielleicht das Jahr der neuen Begegnungen. Die evakuierte Bevölkerung von Brienz/Brinzauls, die hunderten von Einsatzkräften aus dem ganzen Kanton, unsere Spezialisten, die enge Zusammenarbeit in der Gemeinde und mit dem Gemeindeführungsstab. Das alles hat uns zusammengeschweisst. Manchmal sind es ganz kleine Dinge, die sich einem einprägen und dann lang in Erinnerung bleiben.

 

«Was genau eintreten wird, weiss man nicht.»

 

Sie haben den Medienrummel vergessen!

Vielleicht habe ich ihn verdrängt (lächelt breit).

Im Ernst: Die Medienpräsenz war schon enorm. Aber so schnell sie kam, so schnell ist sie auch wieder gegangen. Die Medienleute haben insgesamt sehr gute Arbeit geleistet. Sie haben uns geholfen, die Vorgänge zu vermitteln. Dass das mit einigem Rummel verbunden war, war nicht immer angenehm, aber wir waren durch unseren Medienverantwortlichen gut vorbereitet. Wenn wir konnten, und wenn es uns brauchte, band er die Experten des Gemeindeführungsstabs und mich in die Medienarbeit ein, ansonsten übernahm er sehr viel Medienarbeit für uns alle und schützte auch die Betroffenen vor allzu viel Mediendruck. Jetzt ist wieder Ruhe eingekehrt – und das ist gut so.


Sie haben sich und den Gemeindeführungsstab während vier Jahren auf die Evakuierung vorbereitet. Was konnten Sie nicht vorbereiten?

Da gibt es tausend Dinge. Wenn man eine Krisenorganisation vorbereitet, geht man von Szenarien aus, die mögliche Entwicklungen beschreiben. Was genau eintreten wird, weiss man vorher natürlich nicht.


Sind das also Sandkastenspiele?

So werden sie manchmal genannt. Aber sie sind mehr als das. Die Denkarbeit und die Fleissarbeit, die man in die Vorbereitungen steckt, sind gut investiert. Tritt ein Ereignis dann ein, beginnt man nicht von Null. Teile der Vorbereitungen kann man unverändert übernehmen, Teile muss man anpassen, anderes macht man ganz neu.


Wie gut waren Sie letztlich vorbereitet?

Alles in allem darf man sagen: Wir hatten und haben einen sehr guten Gemeindeführungsstab. Ein Teil unserer Leute waren schon in Bondo dabei, andere sind von hier und kennen hier jeden Winkel. Die Mischung der Leute und ihrer Erfahrung hat sehr gut gepasst. Und durch die Vorbereitungszeit kannten sich fast alle untereinander schon. Auch das hat die Zusammenarbeit leichter und effizienter gemacht.


Was unterscheidet die Arbeit in der Krise von der Arbeit in der Normallage?

In der Krise drängt immer die Zeit. Man muss entscheiden, bevor man alles weiss. Andererseits suchen auch alle nach Lösungen und alle versuchen, zu helfen. In der Normallage gibt es viel mehr Bedenken und Vorbehalte.


In der Nacht des Schuttstroms vom 15. Juni war es stockdunkel und niemand wusste genau, was passiert. Wie haben Sie das erlebt?

Den Lärm, der vom Berg kam, hatte so noch niemand gehört. Er hat uns beeindruckt. Dass wir nichts sahen, hat die Situation erschwert, aber wir wussten, dass niemand im Dorf ist und deshalb auch niemand verletzt werden würde. Als wir dann im Morgengrauen sahen, dass dem Dorf vermutlich nichts passiert war, haben wir alle aufgeatmet.


Das Dorf war bis zum Ereignis gut fünf Wochen evakuiert gewesen. Die Ungeduld bei den Betroffenen wuchs mit jedem Tag. Wie lange hätten Sie das noch durchgehalten?

So lange, wie es die Gefahrenlage erfordert hätte.


Das klingt jetzt etwas einfach.

Nichts an dieser Evakuierung war einfach – für niemanden. Dass die Betroffenen ungeduldig wurden, haben wir immer gut verstanden. Am schlimmsten war diese Ungeduld aber nicht für uns, die wir täglich ihre Fragen beantworten mussten, sondern für sie selbst. Nicht zu wissen, was passieren wird und wie es im Leben weitergeht, ist kaum auszuhalten. Trotzdem hätten wir die Evakuierten nicht ins Dorf zurücklassen können, wenn es ihre Sicherheit gefährdet hätte.


Sie haben aber Ausnahmen gemacht...

Wenn es die Gefährdungslage zuliess, ja. Die Bewohnerinnen und Bewohner wollten verständlicherweise ab und zu in ihre Häuser. Sobald das zu verantworten war, haben wir das möglich gemacht. Und die Landwirte mussten zusehen, wie das Gras auf ihren Wiesen immer höher wurde, und konnten lange nicht heuen. Als das Arbeiten unterhalb des Dorfes sicher war, haben wir auch das ermöglicht. Trotzdem war es für alle Betroffenen eine mühsame Zeit.

 

«Alle waren ab und zu am Anschlag.»

 

Das halbe Dorf hat Ihre Handynummer. Haben Sie sich manchmal eine Geheimnummer gewünscht

Das haben mir meine Leute angeboten. Aber als Gemeindepräsident darf man sich nicht einfach abschotten. Ich versuchte, für die Leute gut erreichbar zu sein.


Waren Sie nie am Anschlag?

Alle waren ab und zu am Anschlag. Wenn man über längere Zeit fast Tag und Nacht arbeitet, passiert das. Man muss dann aufpassen, dass man nicht plötzlich im Hamsterrad läuft.


Was taten Sie dann?

Ein paar Mal habe ich das Handy im Büro gelassen. So konnten die Betroffenen die Gemeinde erreichen, aber ich selbst konnte ein paar Stunden Ruhe finden. 


Und wo fanden Sie diese Ruhe?

Es war Heusaison. Ich habe gearbeitet. Das hat mir gutgetan.


Ist in der Gemeinde jetzt wieder Ruhe und Normalität eingekehrt?

Im Grossen und Ganzen schon. Normalität bedeutet bei uns aber immer noch, dass sich Brienz/Brinzauls mit mehr als einem Meter pro Jahr talwärts bewegt. Der Brienzer Rutsch beschäftigt uns noch immer sehr. Wir werden vom Kanton und zahlreichen Fachleuten enorm unterstützt. Aber es gibt in Albula/Alvra nicht nur den Brienzer Rutsch.


Wie nehmen Sie die Bewohner der gesamten Gemeinde heute wahr?

Ich darf der Präsident einer Gemeinde sein, die zusammenhält. Dass die Gemeindeversammlung Jahr für Jahr Projekte und Kredite für Brienz/Brinzauls bewilligt, ist keine Selbstverständlichkeit. Die Solidarität innerhalb der Gemeinde ist enorm. Darauf kann die ganze Gemeinde stolz sein.

 

«Die Gemeinde darf sich finanziell nicht übernehmen.»


Gibt es auch Dinge, die Ihnen Bauchweh machen?

Wir müssen darauf achten, dass sich die Gemeinde finanziell nicht übernimmt. Die Rutschung, der Bau des Entwässerungsstollens und später dessen Betrieb, werden Albula/Alvra noch über Generationen beschäftigen. Daneben müssen immer genügend Geld und Leute vorhanden sein, damit die vielen anderen Bedürfnisse der Gemeinde bedient werden können. Alle unsere Dörfer haben einen Anspruch darauf, dass die Gemeinde auch für sie da ist.


Worauf freuen Sie sich 2024?

Ich freue ich mich auf einen Sommer ohne aussergewöhnliche Ereignisse! Mit mehr Zeit für unseren Landwirtschaftsbetrieb und vor allem auch für meine Familie.

 

Daniel Albertin ist seit 2015 Gemeindepräsident der fusionierten Gemeinde Albula/Alvra. Der selbständige Landwirt ist 52 Jahre alt. Er wuchs in Mon auf und wohnt noch heute mit seiner Familie dort. 

Christian Gartmann ist seit 2019 Beauftragter für Kommunikation und Medien der Gemeinde Albula/Alvra für den Brienzer Rutsch. Er verantwortet den Risikodialog und führte die Krisenkommunikation rund um die Evakuierung vom Brenz/Brinzauls im Sommer 2023. Das Interview erschien am 15. Dezember 2023 im «Bulletin zum Brienzer Rutsch», das die Gemeinde Albula/Alvra monatlich publiziert.