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Was in der Nacht vom 15. Juni passierte

Als in der Nacht vom 15. auf den 16. Juni bei Brienz/Brinzauls der Berg kam, war es so dunkel, dass sogar die Nachtsicht-Kameras nichts sahen. Im Nachgang zum Abbruch der Insel wurde nun untersucht, was genau passiert ist. Der Geologe Reto Thöny lüftet das Geheimnis und sagt auch, warum die Erkenntnisse so wichtig sind.

Brienz/Brinzauls in der Nacht (Bild: gartmann.biz)

Herr Thöny, Ihr Team hat rekonstruiert, was in der Dunkelheit der Nacht vom 15. auf den 16. Juni geschehen ist. Was haben Sie untersucht?

In der Nacht war es so dunkel, dass wir mit unseren Kameras nichts erkennen konnten. Wir wollten also wissen, was wir wegen der Dunkelheit nicht gesehen haben. Das ist wichtig, um künftige Ereignisse besser einschätzen zu können. Bis jetzt hatten wir zu grossen Abbrüchen aus der Rutschung Berg nur wage Hinweise aus historischen Berichten vom Igl Rutsch aus dem Jahr 1878. 


Was haben Sie herausgefunden?

Was wir grösstenteils vermutet hatten. Die Insel bestand zu rund 60 Prozent aus hartem Dolomit. Deshalb gab es die Gefahr eines Bergsturzes. Der dunkelbraune Fussbereich der Insel bestand hingegen aus weichen Tonschiefern, die sich bei einem Abbruch anders verhalten als die harten Dolomite.

Unter der enormen Belastung der von oben nachrutschenden Insel versagte am Abend des 15. Juni zuerst der Fuss der Insel. Dies führte zu einem Abrutschen der Tonschiefer mit einem Übergang in einen Schuttstrom, der bis fast zum Schulhaus vorstossen konnte. 

Ungefähr um halb zwölf kam es zu einem Kollaps der darüberliegenden Dolomite und sie stürzten ab. Die Sturzmassen fielen mit grosser Wucht auf den bereits abgelagerten Schuttstrom aus weicherem Material. Die abstürzenden Blöcke sind darin förmlich steckengeblieben. 


Wie haben Sie das untersucht?

Die Abläufe rekonstruierten wir bei Beobachtungen im Feld und aus den Aufzeichnungen der Überwachungssysteme. Dabei haben uns vor allem der Steinschlagradar, der Georadar und die seismischen Stationen geholfen. Die Live-Kamera, die Blick-TV und die Gemeinde aufgestellt hatten, lieferte zudem eine gute Tonspur. Hier hörte man zum Beispiel die Druckwelle vom Felssturz.


Geologen wälzen jede Menge Daten. Sie gehen aber auch immer wieder ins Gelände. Was haben sie dort festgestellt? 

Die Daten der Überwachungssysteme liefern äusserst wertvolle Informationen, rekonstruieren konnten wir das Ereignis aber erst, nachdem wir selbst auf dem Schuttkegel waren. Dort haben wir uns genau angesehen, aus welchen Gesteinen der Schuttstrom und der Felssturz bestehen. Anhand der Dolomitblöcke konnten wir im Feld gut erkennen, wie weit der Felssturz gekommen war und wie sehr sich die Sturzblöcke in den weichen Untergrund gedrückt hatten. Zudem fanden wir zahlreiche Hinweise, dass der Schuttstrom als Rutschung angefangen hatte.


Sie sagen oben, der Abbruch der Insel sei so gekommen, wie sie es vermutet hatten. Enttäuscht?

Im Gegenteil! Wir lagen mit unseren Einschätzungen grösstenteils richtig. Das zeigt uns, dass die von uns angewandten Methoden zu einem realistischen Ergebnis führten und dadurch eine gute Prognose möglich war. Bei einem so komplexen geologischen Vorgang ist das keine Selbstverständlichkeit.


Hat es denn gar keine Überraschungen gegeben?

Doch, die gab es schon. Mit einem Schuttstrom und einem unmittelbar darauffolgenden, grossen Felssturz hatten wir so nicht gerechnet. Wir waren davon ausgegangen, dass die Gesteinsmassen der Insel entweder als Felssturz oder als Schuttstrom niedergehen. Einen Bergsturz hatten wir zum Zeitpunkt des Abbruches nicht mehr erwartet. 


Vor der Evakuierung und dem Ereignis hatten Sie gesagt, dass es für das Dorf dann gefährlich wird, wenn mehr als eine Million Kubikmeter abstürzen. Jetzt sind 1,2 Millionen abgegangen und nichts passiert. Waren Sie zu vorsichtig?

Ich denke nicht. Die 1,2 Millionen setzen sich aus rund 60 Prozent Dolomit und rund 40 Prozent Tongestein zusammen. Vom Dolomit sind nur eine halbe Million Kubikmeter als Felssturz heruntergekommen. Der verbleibende Teil lagerte sich im mittleren Hangbereich ab. Das Volumen des Felssturzes aus dem Dolomit lag also deutlich unterhalb von einer Million Kubikmeter. Auch deshalb konnte sich eine Bergsturzdynamik mit gefährlich hohen Geschwindigkeiten gar nicht erst entwickeln.


Wie beurteilen Sie heute die neue Gefahrenlage?

Im Moment ist es sicher, im Dorf zu wohnen, wenn man sich an die Gefahrenperimeter hält. Trotzdem dürfen wir das Plateau nicht aus den Augen lassen. Im Moment stellt es zwar keine Gefahr dar. Aber wir überwachen die Bewegungen genau und untersuchen die Stabilität des Plateaus. Sollte sich eine neue Gefahr entwickeln, würden wir das frühzeitig erkennen.


Wovon hängt es ab, ob die abgestürzte und abgerutschte Masse jetzt stabil bleibt?

Von der Steilheit, dem Material und seiner Reaktion auf viel Nässe. Wenn es stark oder sehr lange regnet, kann ein Schuttkegel so nass werden, dass er irgendwann kein zusätzliches Wasser mehr aufnehmen kann. Dann kann sich unter bestimmten Bedingungen eine Schlammlawine oder ein Murgang bilden.

Wir haben aber keine Angst, dass das hier passieren wird. Die Starkniederschläge von Ende August waren ein Stresstest. So stark wie damals regnet es im Durchschnitt nur alle 20 bis 30 Jahre einmal. Zu lokalen Ausschwemmungen von Schlamm und Kies auf das Kulturland kann es im Nahbereich des Kegels bei stärkeren Niederschlagsereignissen jedoch weiterhin kommen.


Kann der Stollenbau zum Problem für die Stabilität werden?

Nein, ich denke das kann man ausschliessen. Selbst wenn es Senkungen geben sollte, wird das die Stabilität des Kegels nicht beeinflussen. Die Gesamtstabilität der Rutschung Brienz hat sich durch den Abbruch der Insel generell verbessert.


Ist das Dorf jetzt mehr gefährdet oder eher sicherer als vor dem Schuttstrom?

Mit dem Abgang der Insel hat sich das Gelände verändert und die Steinschlaggefahr nördlich des Dorfes ist kleiner geworden. Das zeigen uns unsere Beobachtungen, der Steinschlagradar und die ersten Modellrechnungen. Wir sind jetzt daran, die Gefahrenkarte zu überarbeiten und dann sehen wir, ob die gesperrten Gefahrenbereiche nördlich des Dorfes verkleinert werden können.


Falls jetzt wieder etwas abbricht: Ab wann kann es dennoch gefährlich werden?

Wenn wir sehen sollten, dass sich das ganze Plateau oder grosse Teile davon stärker bewegen. Eine Million Kubikmeter sind noch immer ein Wert, den wir im Auge behalten. Ab diesem Volumen können sich Bergstürze mit hohen Geschwindigkeiten entwickeln. Aber wie gesagt: So etwas würden wir mit den Überwachungssystemen rechtzeitig erkennen. Im Moment ist das Dorf nicht gefährdet.


Was untersuchen Sie jetzt weiter?

Wir untersuchen vertieft den Zustand und das Bewegungsverhalten des Plateaus und der übrigen Bereiche der Rutschung Berg. Parallel dazu läuft die Überarbeitung der Gefahrenkarte für die Sturzprozesse in Brienz.

Zudem untersuchen wir die Wirkung des bereits bestehenden Sondierstollens auf die Wasserdrücke und Rutschgeschwindigkeiten im Westteil der Rutschung Dorf. Wir wollen auch noch besser verstehen, welche Wirkung dieser noch kurze Stollen auf die gesamte Rutschung Brienz hat. Damit wir noch besser vorhersagen können, was der Entwässerungstollen bringen wird.

Und schliesslich wollen wir für den Entwässerungsstollen noch zwei weitere Bohrungen auf der geplanten Linienführung machen.

 

Interview: Christian Gartmann

Dieses Interview erschien im Bulletin zum Brienzer Rutsch der Gemeinde Albula/Alvra vom 20. Oktober 2023. Christian Gartmann ist seit 2019 Mitglied der Gemeindeführungsstabs Albula/Alvra und Beauftragter für Kommunikation und Medien für den Brienzer Rutsch.