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Der Hunger schärft den Verstand

Stottert die Wirtschaft, ist der Ruf nach Veränderungen meist nicht weit. Damit aber tatsächlich etwas passiert, muss eine Krise schon fast dramatische Formen annehmen. Auch in Graubünden entsteht trotz Krise zu wenig Neues; die Bereitschaft für Veränderungen ist gering. Geht es uns noch zu gut?

Von Alessandro della Vedova*


Die Bündner Wirtschaft stottert gewaltig – das kann man in den aktuellen Statistiken zu Tourismus und Volkswirtschaft schwarz auf weiss nachlesen. Zwar sind wir von der Massenarbeitslosigkeit und den Strassenprotesten in anderen europäischen Ländern scheinbar weit entfernt, Unzufriedenheit und Unsicherheit sind aber die dominierenden Kennzeichen der gegenwärtigen Stimmungslage in Kanton. Dennoch ist umstritten, wie gut oder wie schlecht es uns heute wirtschaftlich wirklich geht.


Anders als bei uns ist die Krise in unseren Nachbarländern keine Frage der Interpretation, sie ist harte Wirklichkeit. Sie erzwingt plötzlich Veränderungen, die noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen wären. Da werden Subventionen herunter- und das Pensionsalter hochgeschraubt, staatliche Dienste privatisiert und ganze Verwaltungsapparate aufgelöst. Das Volk leidet, aber die Staaten bewegen sich.

Alles in Ordnung? Leider nein.

Beschaulicher präsentiert sich die Lage in der Schweiz: Staatsschulden, Arbeitslosigkeit und Inflation sind unter Kontrolle und die Wechselkursproblematik zum Euro wurde entschärft. Unserer Wirtschaft geht es, im Vergleich mit jener anderer Länder, ordentlich bis gut. Der Polit-Betrieb widmet sich denn auch den üblichen Themen und die Strukturreformen des Staates laufen in behäbigem Tempo. Ist also doch alles in Ordnung? Leider nein.


Innerhalb der Schweiz gibt es grosse Unterschiede – zu Ungunsten unseres Kantons. In vielen Bereichen ist Graubünden das nationale Schlusslicht. Zwar kann das Rheintal mit den urbanen Kantonen Schritt halten, die Bergregionen leiden aber mehr und mehr. Und ausgerechnet beim Tourismus, wo unsere Stärke liegen sollte, gehört Graubünden zu den grössten Verlierern.


Die Meinungen zum Umfang der Krise in Graubünden gehen auseinander und Patentrezepte für alle Branchen und Kantonsteile gibt es sowieso nicht. Aber es gibt eine generelle Einstellung zu Veränderungen. Und hier hapert es in Graubünden gewaltig: Wir sind bequem geworden und verabscheuen Veränderungen aller Art. Neue Ideen haben es schwer, Innovationen können so nicht stattfinden.

Rückschläge in Kauf nehmen.

Graubünden war einmal ein Kanton von Pionieren mit verrückten Ideen und mit einem Volk, das offen war für Veränderungen. Kein Wunder: Die Bergregionen waren mausarm; sie klammerten sich an die Hoffnungen, welche mit neuen Projekte aufkamen. Unterstützt von der Bevölkerung konnte Neues gedeihen – Graubünden wurde vom Armenhaus zum Erfolgsmodell.


Ideen gibt es auch heute noch viele – aber es fehlt oft der Mut zur Umsetzung und die Bereitschaft, auch Fehlschläge in Kauf zu nehmen. Was gute Unternehmer Tag für Tag ausmacht, ist dem Kanton, der breiten Politik und dem Volk abhanden gekommen: Die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, für die es keine Erfolgsgarantien gibt.


«Der Hunger schärft den Verstand» sagten schon die alten Römer und sie hatten recht: Nur wer hungrig bleibt, wird sich besonders bemühen, wird neue Ideen zulassen und Ausserordentliches leisten. Nur wer bereit ist Risiken einzugehen, kann langfristig Erfolg haben. Neben Unternehmen und Privaten ist auch der Kanton gefordert: Eine Milliarde an flüssigen Mitteln stünden für Zukunftsprojekte bereit. Die Welt um uns verändert sich rasend schnell – Stillstand ist keine valable Option.

Die Krise nur aussitzen?

Die in die Schuldenkrise geschlitterten EU-Länder müssen sich heute zwangsweise bewegen. Die EU und internationale Gremien diktieren Ihnen die Bedingungen – aus Partnern werden in den Augen der betroffenen Bevölkerung fremde Vögte.


Man muss die Situation nicht schlechter machen, als sie ist. Aber die Wirtschaftsindikatoren sprechen eine deutliche Sprache: Es ist an der Zeit, dass wir uns selbst für Veränderungen öffnen, statt einfach nur darauf zu warten, dass «jemand» unsere Probleme behebt. Denn der «Jemand» wird auf jeden Fall seine Bedingungen stellen.


Natürlich kann man die aktuelle Tourismuskrise auch einfach nur aussitzen. Sie wird uns in ein paar Jahren aber umso schlimmer wieder einholen. Wenn wir uns als Randregion auch in Zukunft selbst ernähren und nicht zum fremdbestimmten Bittsteller und Subventionsbettler verkommen wollen, müssen wir jetzt aktiv werden, selbstbestimmt Innovationen fördern und «Ja» sagen zu Veränderungen.




*Alessandro della Vedova (43) ist Podestà der Gemeinde Poschiavo, CVP Grossrat und Vizepräsident der CVP Graubünden.


Dieser Gastkommentar erschien im Bündner Tagblatt vom 16. August 2013.