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Schritt, für Schritt, für Schritt.

Der Triathlet Philipp Bosshard trainiert im Engadin für seine erste Ironman Halbdistanz. Dank dem Verein ‹Home of Triathlon› hat er Anschluss an eine Trainingsgruppe von Profis gefunden. Sport ist für Philipp mehr als ein Hobby. Er ist sein Weg, nach einem schweren Unfall zurück in den Alltag zu kommen.

Philipp Bosshard fotografiert von Philipp Müller | https://www.philippmueller.co.uk

Montagmorgen um halb sieben im St. Moritzer Sportzentrum ‹Ovaverva›: Lange bevor das Hallenbad für das Publikum aufgeht, absolviert eine kleine Gruppe von Triathletinnen und Triathleten ihr Schwimmtraining. Olympiasiegerin Nicola Spirig, Ironman Hawaii-Siegerin Daniela Ryf, Olympiateilnehmer Andrea Salvisberg und Philipp Bosshard ziehen ihre Bahnen. Am Beckenrand beobachten sie der australische Erfolgscoach Brett Sutton und die St. Moritzer Trainerin Semira Bontognali.

Semira leitet den Verein ‹Home of Triathlon›, der Kindern und Amateuren professionelle Trainingsmöglichkeiten im Engadin bietet. Ihre Aufmerksamkeit ist vor allem bei Philipp Bosshard, der an diesem Tag als einzige Amateur mit trainiert. «Philipp trainiert wie alle anderen. Eine Sonderbehandlung bekommt er nicht – er würde sie auch nicht wollen.»


Obwohl er nur minimale Überlebenschancen hatte, kämpfte er sich durch

«In eine Gruppe zu gehen, brauchte einige Überwindung. Ich musste dazu meine Komfortzone verlassen, aber es hat sich mehr als nur gelohnt», erzählt Philipp, der seit Anfang 2020 mit Semira trainiert. Was er damit meint, zeigt sich, wenn er das Becken verlässt: Fast seine gesamte Körperhaut ist brandversehrt. Bei einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle verlor er 2014 fast sein Leben. Zwei Jahre verbrachte er in Spitälern, davon viele Monate im Koma und auf der Intensivstation. Obwohl er nur minimale Überlebenschancen hatte, kämpfte er sich durch und schaffte es, das Krankenhaus zu verlassen und in die lange Rehabilitation zu wechseln.

Die Haut, die ihm transplantiert wurde, stammt von ihm selbst. Sie wurde im Labor gezüchtet und ihm in mehr als 60 Operationen eingesetzt. Aber sie ist viel dünner als seine normale, mehrschichtige Haut und besteht fast nur aus Narbengewebe. «Nachts, wenn ich mich wenig bewege, zieht die Haut sich zusammen. Morgens muss ich sie deshalb zuerst wieder dehnen.»

Philipp mag die Vormittage im Schwimmbecken. «Schwimmen ist zwar die schwierigste Disziplin für mich, weil ich meine Arme nicht mehr ganz über den Kopf strecken kann. Aber das Wasser hilft mir, meinen Körper zu dehnen und für den Tag zu mobilisieren.» Und noch etwas mag Philipp: Den Zusammenhalt im Team. «Die Leute in dieser Gruppe sind grossartig. Sie geben mir Tipps und respektieren mich für meine sportliche Leistung. Hier kann ich Athlet sein und nicht Patient.»


«Er ist einer von uns» (Nicola Spirig)

«Philipp ist immer gut drauf, sehr hilfsbereit und neugierig auf einen guten Tipp», sagt der fünffache Schweizermeister Andrea Salvisberg. «Er gibt jeden Tag Vollgas und ist trotzdem immer relaxed.» Salvisberg's Coach Brett Sutton sind Philipps Fortschritte aufgefallen: «Anfangs war ich skeptisch – vor allem wegen seiner Schwimmleistungen. Aber Philipp hat mich überzeugt – und das ist nicht einfach.» Für Trainerin Semira Bontognali, die mit Philipp auch in einer Gruppe von Amateuren arbeitet, ist er für das Team ein Gewinn: «Seine positive Energie rückt alles andere in den Hintergrund. Er bringt sich in die Gruppe ein und motiviert auch die anderen.» Und Olympiasiegerin Nicola Spirig sagt: «Ich bewundere, wie Philipp sich seiner Herausforderung stellt und sich dabei ein sehr hohes sportliches Ziel setzt. Er hat meinen Respekt – er ist einer von uns.»

Der Triathlon ist für den 33-Jährigen mehr als ein Hobby. Er trainiert zwei bis dreimal pro Tag, 18 Stunden pro Woche. Mit den Profis, den Amateuren aus der Region oder allein. Daneben macht er viel Physiotherapie. «Meine körperliche Situation wird sich kaum mehr verbessern. Jetzt geht es um die Erhaltung des Erreichten», sagt er nüchtern. «Alles, was ich heute tun kann, musste ich mir mit Training erarbeiten. Wenn ich zu lange nichts mache, verliere ich es wieder. Training und Körperpflege sind deshalb mein neuer Beruf geworden.»


«Der Sport zwingt mich, meine Komfortzone zu verlassen.»

Philipp fällt auf und wird entsprechend angestarrt. «Die grösste Einschränkung für mein Leben ist nicht motorisch oder körperlich. Es ist die ungewollte Aufmerksamkeit, wenn mich die Leute ansehen. Trotzdem verstecke ich mich und mein Schicksal nicht.» Der Alltag ist denn auch seine grösste Herausforderung: «Das Überleben war fast der einfachste Teil am Ganzen. Wieder in ein erfülltes Leben zu finden, ist viel die grössere Aufgabe.»

Der Sport hilft ihm aber auch hier: «Sport ist nicht nur für meine Motorik und Mobilität wichtig. Er zwingt mich, meine Komfortzone zu verlassen und mich dem Alltag und den Leuten zu stellen. Mit dem Sport kann ich jeden Tag über mich hinauswachsen.» Philipp hat Pläne: Im kommenden Sommer will er erstmals eine Ironman-Halbdistanz bestreiten. 1,9 Kilometer Schwimmen, 90 Kilometer Rad und 21 Kilometer Laufen.

Schritt, für Schritt, für Schritt: Die Art, wie Philipp sich in sein neues Leben zurückgekämpft hat, ist für viele eine Inspiration. In Vorträgen erzählt er seine Geschichte und hilft Menschen, die von Schicksalsschlägen getroffen wurden, wieder vorwärts zu schauen. Aber auch die Gesunden können von ihm lernen: «In jedem von uns steckt eine eigene Persönlichkeit, egal wie er aussieht und was er erlebt hat», sagt Philipp und wird nachdenklich. «Wenn ich das den Menschen näherbringen kann, hat es einen Sinn, dass ich das alles überlebt habe.»

www.philippbosshard.ch

 

Dieser Text von Christian Gartmann erschien im Magazin «Active Alpine Lifestyle» von Skiservice Corvatsch. Es liegt in allen Filialen von Skiservice und mehr als zwei Dutzend Partnerbetrieben und Hotels gratis auf. Das Magazin kann hier auch online gelesen werden.